Zeit: Griechenlands Michael Moore

Ferry Batzoglou

Viel Zeit hat Aris Chatzistefanou nicht in diesen Tagen. Einladungen stapeln sich in der Athener Wohnung des 34-Jährigen. Überall in Griechenland wollen die Menschen mit ihm diskutieren – über Catastroika, seinen jüngsten Film. Seit rund einem Monat ist er kostenlos im Netz zu sehen – und nicht nur da.

Wer Aris Chatzistefanou trifft, der glaubt, einen strebsamen Studenten vor sich zu haben. Adrett gekleidet, Brille, freundlicher Blick. Doch dem ist nicht so. Chatzistefanou ist Filmemacher – ein ziemlich kritischer. Sein neuestes Werk beleuchtet die möglichen Folgen der bevorstehenden Privatisierungen in Griechenland.

Der Film zeigt abschreckende Beispiele der vergangenen Jahrzehnte in Kalifornien, England, Ostdeutschland, Frankreich, Italien und Russland. Penibel werden die überaus negativen Auswirkungen auf Wirtschaft und Gesellschaft aufgearbeitet. Bekannte Analysten wie Slavoj ZizekNaomi Klein, Ken Loach oder Greg Palast sprechen über die rigorose Sparpolitik, die Griechenland seit dem Frühjahr 2010 in seinen Grundfesten erschüttert, aber auch über den massiven Angriff auf die Demokratie in Europa nach dem Ausbruch der Wirtschafts- und Finanzkrise. Dem Zuschauer soll erklärt werden, was den Griechen blüht, wenn wie geplant alsbald die noch unter staatlicher Kontrolle stehende Stromgesellschaft, Wassergesellschaft oder Nickelindustrie in Griechenland verscherbelt werden.

Der Film kennt nur eine Richtung

Schnell wird beim Betrachten von Catastroika klar: Chatzistefanou hat eine sehr gefestigte Meinung. Auf den Dialog, andere Sichtweisen wartet man in dem Film  vergeblich. Stattdessen Dramatik: Was passierte in Kalifornien, nachdem 1998 der Strommarkt dereguliert wurde? Binnen zwei Jahren stieg der Strompreis um das 30-Fache. Was geschah in England, nachdem 1994 die Bahnen privatisiert wurden? Es gab tödliche Unfälle. Was schuf die Treuhandanstalt in Ostdeutschland? Millionen Arbeitslose und Milliardenschulden. In Russland hatte die Schocktherapie Anfang der neunziger Jahre, die ganze Landstriche in Armut stürzte, einen Namen: Catastroika. So heißt nun Chatzistefanous Film. “Das alles kommt auch nach Griechenland”, warnt er.

Tatsächlich haben Griechenlands öffentliche Kreditgeber, die Troika aus EU, Europäischer Zentralbank und Internationalem Währungsfonds, schon den Grundstein für ein gigantisches Privatisierungsprogramm im Krisenland gelegt. Das griechische Parlament verabschiedete es im Juni 2011. Ursprünglich sollten dadurch bis 2015 fünfzig Milliarden Euro in die hellenischen Staatskassen fließen. Mittlerweile ist das Ziel auf 19 Milliarden Euro reduziert worden. Derzeit liegt das Programm auf Eis – wegen der erneuten Parlamentswahl am 17. Juni.

So einseitig Catastroika sein mag, der Film ist eine Erfolgsgeschichte des alternativen Journalismus. Er wurde ausschließlich über private Spenden finanziert und ist gratis zu sehen. Die Spender nennt Chatzistefanou “Koproduzenten”. Fernsehstationen, Kinos oder Veranstalter können das Werk in hoher Auflösung ausstrahlen, ohne dafür Nutzungs- und Senderechte zu bezahlen. Untertitel sind in mehreren Sprachen verfügbar – auch auf Deutsch.

Die angesichts der handwerklichen Qualität der Doku durchaus überschaubaren Produktionskosten von 25.000 Euro habe Catastroika mittlerweile in etwa gedeckt, sagt Chatzistefanou. Fließen die Spenden weiter, würden die Überschüsse in das nächste Filmprojekt gesteckt. Geld verdienen will er mit seinem Film ohnehin nicht. Er will aufrütteln und den Widerstand gegen die Sparpolitik anheizen.

Erfolgreicher Vorgängerfilm

Das scheint ihm zu gelingen. Bereits im Vorjahr hatte Chatzistefanou den Dokumentarfilm Debtocracy produziert. Darin werden Gründe und Lösungen für Griechenlands Schuldenkrise beschrieben. Mehr als zwei Millionen Mal wurde er im Netz bislang abgerufen. Fernsehsender in Japan, Lateinamerika, Portugal und Rumänien strahlten die Doku aus. In Griechenland selbst wurde Debtocracy im Frühjahr und Sommer 2011 zum Kultfilm. Zigtausende Protestler sahen ihn auf Plätzen im ganzen Land.

Nun also Catastroika. Er wird den Erfolg seines Vorgängers übertreffen, so viel ist sicher. “Geht nicht wählen, bevor ihr Catastroika seht !” Das sei ein Tweet, der derzeit in Griechenland die Runde mache, sagt Chatzistefanou sichtlich stolz. Schon in den ersten Tagen sei sein Film im Netz mehr als 500.000 Mal geklickt worden. Public Viewings werden veranstaltet, Lokalstationen strahlen die Doku aus, Universitäten laden Chatzistefanou zu Vorträgen ein. Für nicht wenige Griechen ist der Filmemacher ein Held. Er ist ihr Michael Moore.

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